Hochverehrter Herr

Nicht ohne Beschämung erhalte ich Ihren so liebenswürdigen Brief vom ersten Tage dieses Jahres;² wenn nach altem Glauben der Segen des Weisen Heil bringt, so müssen die freundlichen Wünsche, welche Sie mir entgegengebracht, mir ein glückliches Jahr verkünden. Von ganzem Herzen erwidere ich Ihre Glückwünsche; möge auch in dem neu begonnenen, wie noch vielen folgenden Jahren, Ihnen vergönnt sein, für die Menschheit neue Thatsachen, neue Gedanken zu finden, und sich des Erfolges Ihrer Geistesarbeit, und der Verehrung Ihrer Zeitgenossen in ungetrübter Frische zu erfreuen.

Ich bin in diesen Tagen viel beschäftigt gewesen mit den Vorbereitungen zu dem 50 jährigen Jubiläum meines Lehrers und Freundes Prof. Goeppert, der sich, wie kein andrer Naturforscher in unserem Kreise, die Liebe seiner Mitbürger durch seine wahrhaft humane Thätigkeit als akademischer Lehrer zu erwerben gewußt hat.³ Eine große Menge von wissenschaftlichen und anderen Festgaben sind für dieses Fest von hiesigen und auswärtigen Freunden vorbereitet worden, ich selbst schicke Ihnen in den nächsten Tagen eine von mir verfaßte Festschrift, über “die Entwicklungsgeschichte der Gattung Volvox” welche die höchst merkwürdige Organisation und Fortpflanzung dieses mikroskopischen “Zellen staates” schildert, und über die untersten Stufen des Lebens manches Licht verbreitet.⁴ Bei dieser Gelegenheit möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß bei einem überaus einfachen lebenden Wesen, das kaum höher organisirt ist als Bathybius,⁵ der Bautrieb, die Fähigkeit sich ein Haus aus fremden Stoffen zu bauen, sehr entwickelt ist. Ich meine die Gattung Difflugia, eine im süßen Wasser verbreitete, artenreiche Gruppe aus der Familie der Rhizopoden, deren Plasmakoerper aber nicht nackt ist, wie bei den Amoeben, noch durch Secretion sich ein hornartiges oder kalkiges Gehäuse baut, wie Arcella⁶ und die Foraminiferen,⁷ sondern durch Zusammenkleben von Sandkörnchen, Diatomeenschalen und andren im Wasser vorkommenden Körperchen sich eine Hülle baut, ähnlich wie die Phryganeenlarven.⁸ Räthselhaft ist eine solche Thätigkeit auf der niedersten Stufe der Organisation

Meine Abhandlung über Aldrovanda und Utricularia, obwohl längst gedruckt, ist doch noch immer nicht ausgegeben, weil dieselbe in einem Bande aufgenommen ist, zu welchem ich den Schlußaufsatz (über Bacterien) noch nicht habe vollenden können;⁹ inzwischen übersende ich Ihnen einen Abdruck der Tafel; es wird mich freuen, wenn Sie von derselben für Ihre Schrift Gebrauch machen wollen, und ich stelle Ihnen dieselbe zu jeglicher Benutzung mit Vergnügung zur Disposition.¹⁰

Bei einem Besuch des Botanischen Garten zu Berlin im vorigen Herbst sah ich außerordentlich üppige Exemplare von Darlingtonia und Dionaea, welche unter Glasglocken auf Sphagnum cultivirt waren.¹¹ Nach der Versicherung des Gärtners waren hier keine Insecten zu den Pflanzen gelangt, und doch entwickelten sich dieselben kräftiger, als ich sie je gesehen. Wie ist dies zu erklären?

Von der Redaction der “Deutschen Rundschau”, die eine Art “Revue de deux mondes” zu werden bestimmt ist, und in welcher auch der von mir vor einiger Zeit Ihnen zugeschickte Aufsatz “Botanische Probleme” enthalten war, bin ich ersucht worden, einen “Essay” über Ihr in Aussicht stehendes Buch von Drosera zu schreiben, und ich bin gern bereit dies zu thun.¹² Sollte ich daher durch Ihre grosse Freundlichkeit zeitig in den Besitz Ihres Buches gelangen können, so würde ich dadurch in den Stand gesetzt, dem grossen Leserkreis der Deutschen Revue durch einen Bericht über Ihre neuen Forschungen bald eine Freude zu machen.

Mit der Bitte mir Ihr, mich so hoch ehrendes und erfreuendes Wohlwollen zu erhalten, zeichne ich in Verehrung | Dr. Ferdinand Cohn.