Hochverehrter Herr!

Ihr gütiges Schreiben vom 30 Juni ist sehr verspaetet in meinen Besitz gelangt, weil es die Verlags-Buchhandlung nicht sofort expedirt hatte. Ich danke Ihnen tausendmal für Ihre freundliche Mittheilung hinsichtlich der Farbentheorie, sowie für die Erlaubniss die “biographische Skizze” im Kosmos abdrucken zu duerfen. Ich werde mir erlauben, Ihre hoechst merkwürdige Beobachtung ueber die Schwierigkeit der Farben unterscheidung fuer Kinder am Schlusse hinzuzufügen.²

Diese Thatsachen sprechen allerdings fast zu Gunsten der Geiger–Gladstone’schen Auffassung.³ Dennoch kann ich mich nicht entschliessen derselben beizustimmen. Auch Herr Professor Jaeger⁴ schreibt mir, dass er den Geiger’schen Aufstellungen kein Gewicht beimessen könne, und der berühmte Aegyptologe Professor Duemichen⁵ in Strassburg, den ich um sein Urtheil bat, ob in den allerältesten aegyptischen Gemälden die Farben der Natur, wie wir sie heute sehen, entsprechend angewendet worden seien, antwortete mir: sie seien es. Gleichwohl muss ich gestehen dass ein definitives Urtheil in dieser Frage recht schwierig ist, wenn ich auch zunächst entschieden auf meinem Standpunkte beharre.

Was die Artikel des Kosmos betrifft, so hoffe ich dass wir allmälig von der blossen unfruchtbaren Speculation zu mehr praktischen unmittelbareren Diskussionen gelangen werden, und mein ganzes Bestreben ist dahin gerichtet, diese rein philosophischen Discussionen auf ein geringeres Maass zu beschraenken, und dagegen die Beobachtungs-Resultate zu begünstigen. Leider ist die Spaltung der Unterparteien sehr gross. Herr Prof. Wagner will nichts anderes als die Migrations-Theorie gelten lassen; Herr Pr. Carl Vogt findet nichts anderes studirenswerth als die Microcephalen, Prof. Semper schwärmt für die Anneliden-Verwandschaft der Wirbelthiere, und Alle befehden sich gegenseitig statt einander in die Hände zu arbeiten.⁶

Sehr merklich mindert sich dagegen bei uns die Opposition der Geistlichkeit gegen die neue Weltanschauung; die Anhänger des sogenannten Protestanten-Vereins haben bereits wiederholt auf ihren Versammlungen sich mit dem Darwinismus beschaeftigt, und gefunden, dass er gar nicht so unvereinbar mit Religion und Sitte sei, als man geglaubt hatte.⁷ Langsam aber unwiderstehlich vollzieht sich die Revolution der Geister.

Ich bitte Sie, nicht ungehalten zu sein dass ich Sie mit so allgemeinen Bemerkungen aufhalte und zeichne

Mit herzlicher Verehrung | Ihr | treulich ergebener | Ernst Krause.